
Sehen und gesehen werden:
Die Magie stiller Tierbegegnungen
Die visuelle Wahrnehmung bestimmt unsere Reisen wie kaum ein anderer Sinn. Mit unseren Augen nehmen wir Farben, Bewegungen, Licht und Schatten wahr. Durch dieses Tor erschließen wir die Welt, erkennen Schönheit, erfassen Gefahren, suchen Orientierung.
Und doch ist das Sehen viel mehr als nur das Sammeln optischer Eindrücke. Etwas „mit anderen Augen sehen“ heißt, es neu oder tiefer zu begreifen. Zudem sehen wir nicht nur mit den Augen, sondern oft auch emotional. Etwas kann uns berühren, nicht weil es direkt sichtbar ist, sondern durch die Art und Weise, wie wir es wahrnehmen: Ein Blick kann Nähe, Mitgefühl oder Liebe ausdrücken, ganz ohne Worte. Manche sprechen davon, mit dem „inneren Auge“ oder dem „Herzen“ zu sehen, also das Wesentliche hinter der Oberfläche zu erfassen.
Durch bewusstes Sehen können wir Dinge entdecken, die im Alltag oft übersehen werden. Manchmal wird Sehen zu etwas viel Größerem als dem bloßen Wahrnehmen mit den Augen. Es wird zu einem ganzheitlichen Erleben: körperlich, emotional, spirituell. Vor allem dann, wenn wir atemberaubende Landschaften oder Tiere in freier Wildbahn erleben dürfen.

Für uns ist es etwas ganz Besonderes, Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Diese Begegnungen sind nicht planbar, nicht kontrollierbar. Sie geschehen, wenn wir bereit sind zu sehen, nicht zu jagen (mit der Kamera oder festen Erwartungen). Wenn ein Tier sich von alleine zeigt und sogar in unsere Nähe kommt, fühlt es sich an wie ein Geschenk: unerwartet und zu Herzen gehend. Im besten Fall geschehen solche Momente in der Stille, ohne störenden Lärm wie motorisierte Maschinen oder ablenkende, laute Menschen. Nur wir, die Umgebung und das Tier.
Beim Schnorcheln in Ägypten schwamm einmal ein Dugong seelenruhig und gleichzeitig wachsam direkt an uns vorbei; auf den Philippinen begegneten wir mehreren Walhaien, die für einen flüchtigen Augenblick aus der Tiefe auftauchten. Meeresschildkröten konnten wir in mehreren Ländern ungestört unter und über Wasser beobachten. In Sri Lanka bewunderten wir von unserer Terrasse aus den Balztanz eines Pfaus. In Tansania entdeckten wir plötzlich eine Giraffe, die nur wenige Meter von unserem Zelt entfernt im Gebüsch stand. Eine Weile lang betrachteten wir uns gegenseitig, still und neugierig. Diese Momente brennen sich nicht nur in unsere Erinnerung, sie berühren uns: durch das, was wir sehen und fühlen. Sie lassen uns staunen, tief ergriffen und mit der Erde verbunden sein.

Das visuelle Erleben kann auch seine Schattenseiten haben, wenn es vom Wunsch getrieben ist, alles zu sehen, alles festzuhalten, nichts zu verpassen. Der englische Begriff „Must-See“, der im Deutschen häufig für den Reise- oder Kulturbereich übernommen wird, bezeichnet etwas, das man unbedingt gesehen haben sollte. Dazu gehören auch bestimmte Lebewesen. An vielen Orten der Welt werden Tiere gezielt angelockt, gefüttert, teils sogar gestört, nur um den Touristen das perfekte Bild zu ermöglichen. Das Sehen verkommt dann zur bloßen Reizüberflutung. Statt achtsamer Beobachtung entsteht Unruhe, Lautstärke, Hektik – der Zauber verfliegt.
Dazu ein Beispiel, das uns bis heute bewegt und das wir an verschiedenen Orten der Welt bei unterschiedlichen Wildtieren ähnlich beobachten konnten:
Wir haben einmal eine Gruppe von etwa zwanzig Personen gesehen, die bei Nacht allesamt sehr nah um eine Meeresschildkröte herumstanden, die gerade mit der Eiablage beschäftigt war. Die Schildkröte wurde von mehreren Leuten mit Taschenlampen und Handys angeleuchtet und von den anwesenden Rangern sogar angefasst. Die Hinterflossen des Tieres wurden tatsächlich auseinandergeschoben, damit die Eier für Fotos besser zu sehen waren. Die majestätischen, gefährdeten Tiere derart zu belästigen, unter Duldung und aktiver Teilnahme der Ranger, hat uns ziemlich irritiert. Es ist fraglich, ob dies eine Gruppe des örtlichen Artenschutzzentrums war, denn es existieren auch Anbieter mit fragwürdigen Absichten, bei denen Tiere zur Schau gestellt werden. Sie sind nicht immer auf den ersten Blick von seriösen Organisationen zu unterscheiden.
In vielen Regionen der Welt gelten die Eier und das Fleisch von Meeresschildkröten als Delikatesse. Leider führt dies dazu, dass illegale Händler Nester plündern und die Eier auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Artenschutzzentren spielen daher eine entscheidende Rolle beim Schutz dieser bedrohten Reptilien: Sie kaufen die geraubten Eier zurück, bieten Arbeitsplätze und leisten wichtige Aufklärungsarbeit, um sowohl bei der lokalen Bevölkerung als auch bei Besuchern das Bewusstsein für den Naturschutz zu stärken.
Der Umgang mit teils eingezäunten Brutstätten für Meeresschildkröten an geschützten Strandabschnitten warf bei uns jedoch Fragen auf. Laut Angaben verschiedener Aufzuchtstationen werden dort die aufgekauften Eier erneut im Sand vergraben. Nach dem Schlüpfen werden die Jungtiere oftmals noch vor dem eigenständigen Verlassen des Nestes aus dem Sand geholt und dabei berührt – ein Vorgang, der für Wildtiere mit erheblichem Stress verbunden ist. In anderen Fällen verbleiben die Tiere zu lange in Meerwasserbecken, was nicht nur das Risiko von Parasitenbefall und Infektionen erhöht, sondern auch ihre natürlichen Überlebensinstinkte im offenen Ozean beeinträchtigen kann.

Wenn die Schildkröten nach dem Schlüpfen von Menschen ins Meer „begleitet“ werden, erscheint dies als vermeintliche Hilfe. Natürlich gibt es viele Gefahren auf dem Weg ins Meer: Fressfeinde und Orientierungslosigkeit durch Lichtverschmutzung. Babyschildkröten sind sehr lichtempfindlich. Normalerweise orientieren sie sich automatisch in Richtung Meer, das durch die Reflexion von Mondlicht und Sternen heller erscheint als das Land. Auch bei bewölktem Himmel oder Neumond wirkt das natürliche Licht des Horizonts über dem Meer für Schildkröten noch hell genug. Künstliche Lichtquellen können sie jedoch auf dem Weg vom Nest ins Wasser verwirren und vom Meer weg in die falsche Richtung locken, was ihre Überlebenschance drastisch senkt. Besonders schädlich ist kurzwelliges Licht im blauen und weißen Spektrum (LED- oder Neonlicht). Es sind nicht nur Hotels, Strandbars oder Scheinwerfer, die auf den Strand strahlen, es sind auch Taschenlampen und Handys, deren ebenfalls weißes und blaues Licht direkt auf die Tiere gerichtet wird. Da sie in der Regel erst nach Einbruch der Dunkelheit schlüpfen, wären sie sonst kaum zu sehen. Schildkrötenfreundlich scheint nur langwelliges Licht im rötlichen Spektrum. Noch besser wäre jedoch gar kein künstliches Licht an Niststränden während der Schlüpfzeit.
Je mehr wir also beobachtet haben, desto mehr drängte sich uns die Frage auf: Ist nicht der Mensch selbst die größte Bedrohung für diese kleinen Reptilien?
Letztlich sind wir alle Teil des Problems:
- wir, die damals geschwiegen haben
- Besucher, die auf der Suche nach dem perfekten Foto Verhaltensweisen unterstützen, die nicht tiergerecht sind
- Reisende mit wenig Zeit und Must-See oder To-Do Listen, die das Erlebnis anschließend abhaken können
- Ranger, die aus wirtschaftlicher Not heraus versuchen, den Erwartungen der Touristen gerecht zu werden oder ihnen einen Gefallen tun
- Anbieter, die zwischen Naturschutz und Geschäft schwanken, statt konsequent auf Artenschutz zu setzen, mit dem sie nicht nur Geld verdienen, sondern auch die Zukunft der Meeresschildkröten und ihre eigene sichern könnten
Man muss nicht jeden Wunsch von Touristen erfüllen – vor allem dann nicht, wenn sie gar nicht danach gefragt haben. Andernfalls entstehen schnell falsche Erwartungen. Und falls doch tierschädliche Wünsche geäußert werden – etwa, einer Schildkröte die Gliedmaße nach außen zu ziehen, um ein besseres Foto von der Eiablage zu machen – genügt ein klares Nein. Eine kurze Erklärung dazu zeigt Respekt gegenüber den Tieren und der Natur.
Die Touristen wiederum könnten mitteilen, dass sie nicht wollen, dass die Tiere angefasst werden. Je mehr Besucher dies äußern, desto weniger wird dies in Zukunft passieren. Es gibt viele Ansätze für Weiterentwicklungen und Verbesserungen.
Wenn geführte Tierbeobachtungen stattfinden, achten wir stets auf kleine Gruppen. In Regenwäldern waren wir maximal zu fünft unterwegs, einschließlich Ranger. In einer solch ruhigen und aufmerksamen Atmosphäre entsteht Raum zum wirklichen Sehen: für das Entdecken leiser Bewegungen, das Erkennen eines seltenen Vogels, für ehrfürchtiges Staunen. Sehen ist ein Geschenk – vor allem, wenn wir mit dem Herzen schauen. Dies ist auch die Botschaft der Erzählung Der kleine Prinz: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Die schönsten Begegnungen sind oft die, die uns zur Stille einladen, zum Lauschen, zum echten Wahrnehmen. Und vielleicht ist das die tiefste Form des Sehens: Wenn wir erkennen, dass es nicht darum geht, möglichst viel zu sehen, sondern das, was wir sehen, selbst die kleinsten, unscheinbarsten Dinge – mit ganzem Bewusstsein.
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